Reliquien

In einer langen Tradition von Reliquiensammlern hatte der Orden im Lauf der Jahrhunderte eine beachtliche Kollektion zusammengetragen. Das wäre ohne die Konzentration auf das Wesentliche niemals möglich gewesen. Sie hatten sich also vor langer Zeit spezialisiert. Ihr Sammelgebiet waren die Zehennägel. Fußnägel von Aposteln und Heiligen der kirchlichen Frühzeit.

Diese vermeintlich unbedeutenden Körperteile offenbarten bei genauer Betrachtung eine tiefe Poesie, und außerdem viele Vorteile. Zum Beispiel waren sie bei Übergriffen von Ketzern, Heiden und Bilderstürmern erheblich leichter in Sicherheit zu bringen als halbe Gerippe oder die mühsam arrangierten Splitter vom Kreuz, von einem großen, mit Gold und Edelsteinen beschlagenen Schrein ganz zu schweigen. Darüber hinaus brauchten so kleine Kostbarkeiten viel weniger Aufwand bei der Reinigung und Pflege. Zudem genossen diese unscheinbaren Körperteile einen Ruf der Authentizität, der den großen Reliquien inzwischen völlig abging. In der wissenschaftlichen Gemeinde schien sich die Auffassung durchgesetzt zu haben, daß wirklich niemand - also: wirklich! niemand! - je auf die Idee kommen würde, Heiligenzehennägel zu fälschen, und daß sie eben deshalb echt sein mussten. Außenstehende Häretiker lächelten über diese Auffassung, da in ihren Häretikerfamilien seit Generationen Geschichten vom heiligen falschen Fußnagel kursierten. Das focht Evolutionsbiologen und Biohistoriker jedoch nicht an, die Fußnagelreliquien weiter zum Gegenstand ihrer intensiven Forschung zu machen. So erwuchs der Kirche auch ein neues Missionsgebiet, das viel leichter zu erreichen war als der abgelegene, staubige Kral im Busch oder die Steppe im Permafrost: Nämlich die wissenschaftliche Gemeinde im Inland, die ihren Willen zum Glauben ja schon durch das Forschungsgebiet offenbart hatte.

Seit Einführung der Nagelfeile im 17. Jahrhundert hatte sich das Sammelgebiet noch um den Feilstaub der Heiligenfußnägel erweitert, und die Jünger der Leute, die auf eine spätere Heiligsprechung hinarbeiteten, standen bei der Körperpflege immer mit einem kleinen Auffanggefäß und einem winzigen Besen bereit.

Das wertvollste Stück in der Sammlung war allerdings eine Meta-Reliquie: Der verbürgte Zehennagelabdruck des Religionsgründers selbst. Man glaubte, bei der Berührung des Meisters mit dem Lehm sei ein Teil seiner fabelhaften Kräfte auch auf dieses Stück übergegangen. Die Berührung war verbürgt, und sie war heftig: Nach dem Testimonium des Thelonius hatte sich der Herr dabei den Zeh gebrochen - und so stand es geschrieben! Dieses Argument, und ein Auszug aus der heiligen Schrift, wurden allen Skeptikern, allen Zweiflern, energisch entgegen geworfen. Der Religionsgründer hatte bei diesem Ereignis ausgerufen „Dies ist mein Schmerz, den ich erleide für all eure Sünden und mit dem ich auf mich nehme all eure Schuld!" Der Himmel weiß, wo er das her hatte, weitere Verletzungen waren bis zu seinem friedlichen Dahinscheiden nicht bekannt.

Wegen der Natur und der Größe der Reliquien, da also diese nicht so spektakulär waren wie Splitter vom Kreuz oder ganze Skelette verbrannter Märtyrer, zog die Sammlung nur die sensiblen, gebildeten und die besonders gläubigen Gläubigen an. Man könnte auch sagen: Die Besucherzahl hielt sich in Grenzen. Der Abt war froh, wenn alle zwei Wochen jemand kam, um sich beim Zehennagel des heiligen Theresius dessen Beistand in einer Sache anderer Umstände zu erflehen. Der Beistand kam, oder er kam nicht - vielleicht hatte das ja doch mit der Größe der Reliquien zu tun.

 

 
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© 2004 Carsten, der  <°((( ~~<